Therapiegarten

Psychosomatik hilft bei Essattacken

Am Department für Psychosomatik für Erwachsene am Klinikum‐Standort Grieskirchen finden Patienten mit Erkrankungen, die von psychosozialen Faktoren beeinflusst werden, eine besondere Anlaufstelle. Betroffene sind zum Beispiel Menschen, die an Adipositas oder Essattacken leiden – in Oberösterreich sind dies rund 200.000 bzw. 30.000 Betroffene. Wenn seelisches Ungleichgewicht durch inadäquates Essverhalten ausbalanciert wird, setzt in Grieskirchen ein multiprofessionelles Behandlungsangebot an – hier wird versucht, Stress, Konflikte und unangenehme Gefühle anders zu regulieren als große Mengen an Nahrungsmitteln zu essen.

 

„Viele Menschen glauben, dass Übergewicht etwas mit Disziplin und Konsequenz zu tun hat“, stellt Walter Neubauer, Leiter des Departments für Psychosomatik für Erwachsene am Klinikum Wels‐Grieskirchen, in den Raum. „Tatsächlich ist es aber oft ein äußeres Zeichen dafür, dass das seelische Gleichgewicht aus verschiedensten Gründen verloren gegangen ist und markante Gründe vorliegen, warum dieses Gleichgewicht über einen meist längeren Zeitraum nicht mehr gefunden werden konnte. Das kann sich dann in einem mehr oder weniger inadäquaten Essverhalten bemerkbar machen.“ Eine Form davon sind wiederholte Essanfälle, auch Binge‐Eating‐Störung genannt.

Essen im Geheimen

Neben der Magersucht stellt vor allem die mehr als dreimal so häufige aber weniger bekannte Binge‐Eating‐Disorder ein komplexes Krankheitsbild dar. Bis zu fünf Prozent der Allgemeinbevölkerung sind betroffen, darunter viele junge Frauen.

„Bei Binge Eating handelt es sich um eine psychisch bedingte Essstörung, bei der Betroffene unverhältnismäßig große Nahrungsmengen in kurzer Zeit zu sich nehmen – obwohl sie gar kein oder nicht ein derart starkes Hungergefühl verspüren.“

OA Dr. Walter Neubauer
Leiter des Departments für Psychosomatik für Erwachsene

 

„Betroffene verfügen über eine geringe Konfliktfähigkeit, sie haben einen hohen Perfektionsanspruch, nehmen ihr eigenes Körperbild aber verzerrt wahr. Gefühle können nicht gut differenziert werden. Deshalb nehmen sie auch kein Sättigungsgefühl wahr.“

Stimmungs­regulator Essen

Um Stimmungen oder Spannungen zu regulieren, beginnen die Patienten zu essen. „Einerseits ist dies ein Versuch, wieder Kontrolle über die negativen Gefühle zu erlangen. Aber durch den neuerlichen Verlust der Kontrolle während der Heißhungerattacke, erwachsen meist hinterher wieder negative Gefühle wie Scham, Schuld und Minderwertigkeit. Ein Teufelskreis entsteht“, beschreibt Neubauer den Leidensdruck der Patienten. Betroffene können für ihre Emotionen keinen Ausdruck finden, die Nahrungsaufnahme wird zur Regulation zweckentfremdet. Gegessen wird dabei alles. „Die Binge‐Eating‐Störung kann mit einer Art Suchtverhalten verglichen werden – was die Therapie umso schwieriger gestaltet, da Nahrung ja nicht wie etwa Alkohol oder Nikotin aus dem Tagesablauf gestrichen werden kann“, so der Departmentleiter.

Zurück zur Normalität

Wichtigstes Ziel in der Behandlung ist die Normalisierung des Essverhaltens der Patienten und die Behandlung der zugrundeliegenden psychischen Defizite. „Vordergründig geht es nicht um eine starke Gewichtsreduktion, sondern um das Wiedererlangen eines kontrollierten Essverhaltens“, erklärt Internist Neubauer. Für betroffene Erwachsene ist der Hausarzt erster Ansprechpartner. Die Behandlung erfolgt dann meist in Form einer stationären Psychotherapie. „Diese verläuft bei uns über eine Dauer von bis zu zehn Wochen, abwechselnd mit jeweils zwei Wochen im Krankenhaus und zwei Wochen zu Hause. Die Zeit daheim hilft, die neuen Erkenntnisse im Alltag zu erproben.“ Das Therapieangebot wird sowohl in Einzel‐ als auch in Gruppensitzungen angeboten und reicht von Psychoedukation über Spannungs‐ und Gefühlregulation sowie Körperwahrnehmung bis hin zum Erkennen und Differenzieren von Emotionen. Nicht fehlen dürfen natürlich Ernährungsberatung, Bewegung und Entspannung. Das Grieskirchner Therapieangebot zeichnet sich aber auch durch die kleine Größe der Therapiegruppen aus: „Adipöse Menschen haben es nicht leicht in der Gesellschaft. Am Klinikum‐Standort Grieskirchen kann ihre Intimsphäre gut gewahrt werden.“ Auch eine Nachsorgegruppe wird auf freiwilliger Basis angeboten. Rund ein Drittel der Patienten kommt regelmäßig wieder. „Es ist wichtig, dass man weitermacht, denn es handelt sich um einen langwierigen Prozess, der viel Motivationsarbeit benötigt.“

Durch ein umfassendes multimodales Therapieprogramm wie am Department für Psychosomatik am Klinikum Wels‐Grieskirchen kann nach derzeitiger Studienlage dem Großteil der Patienten hinsichtlich Essanfällen und Gewichtskontrolle geholfen werden – Gewichtsabnahmen bis zu 20 Kilogramm innerhalb eines Jahres sind möglich, in Extremfällen sogar bis zu 40 Kilogramm. Die Verbesserung des Lebensgefühls als Ausdruck des zentralen Therapieansatzpunktes und die weiterführende Nachsorge im Anschluss an den stationären Aufenthalt wird von den teilnehmenden Patienten sehr geschätzt.